Für mich zählt nur das Heute, Hier und Jetzt!

Im Jahr 2018 erkrankte Frau Neckermann an ALS - bis zur Diagnose dauerte es 3 Jahre. Wir haben mit ihr darüber gesprochen, wie sich ihr Leben verändert hat, wie sie die Krankheit erlebt und welche Hilfsmittel sie dabei unterstützen, ihr Leben nach wie vor weitestgehend selbstbestimmt zu meistern …
    

  1. Frau Neckermann, können Sie sich bitte kurz vorstellen? Alter, Hobbies, Gegend, aus der Sie kommen …
    Ich bin jetzt 66 Jahre alt, wohne genau auf der Hälfte zwischen Regensburg und Ingolstadt in einem kleinen Dorf und fühle mich hier gut aufgehoben. Ich bin vor 30 Jahren hergezogen und habe in der Zeit ganz nette Menschen kennen und schätzen gelernt. Seit 2019 und dem Start der Symptome haben sich meine Hobbies sehr stark gewandelt. Von der damaligen „Springmaus“, die morgens schon im Fitnessstudio zu finden war, regelmäßig in die Therme gegangen ist und immer mit dem Fahrrad unterwegs war, hin zu ruhigeren Beschäftigungen. Heute höre ich viel Musik und lese sehr gerne Beiträge über ferne Länder, die ich mit meinen Füßen nicht mehr erreichen kann, von denen ich aber immer geträumt habe. Egal, ob es die Hurtigrouten sind oder die Scherengärten in Schweden – ich bin jetzt immer mit den Augen unterwegs. Ich lese auch sehr gerne Reiseberichte und Romane, das finde ich toll und ich habe viel Spaß daran. Ab und zu auch Goethe und Schiller. Mir ist es wichtig, meinen Geist noch etwas zu fordern.
  1. Wie ist Ihre Krankheitsgeschichte?
    Im April 2018 bin ich auf dem Weg zu einem gemeinsamen Frühstück mit Freundinnen umgeknickt. Innerhalb der Versorgung hat man dann eine Fußheberschwäche festgestellt, also die eingeschränkte Möglichkeit zur Fußhebung. Ich habe eine Schiene bekommen und konnte im Herbst wieder mit Freunden wandern gehen und hatte Spaß und Freude an allem. Dann kam der Februar 2019. Ich wollte aus meinem Auto aussteigen, es krachte einmal und mein rechter Fuß war dreifach gebrochen. Behandelt wurde ich daraufhin in der Klinik, in der ich damals auch als Stationshilfe gearbeitet habe. Die Kollegen und Kolleginnen haben mich sehr motiviert, sie wollten, dass ich die Gehhilfen weglege und wieder mit anpacke. Aber von demMoment an ging nichts mehr. Ich konnte einfach nicht mehr normal laufen und war ab sofort auf Gehhilfen angewiesen. Circa ein Jahr später saß ich im Rollstuhl und konnte nicht mehr gehen. Mein sehr engagierter Neurologe hat mich dann zur weiteren Diagnostik und Abklärung nach München an das Friedrich-Bauer-Institut überwiesen. Es war lange nicht ganz klar, um welche Krankheit es sich bei meinen Beschwerden und Symptomen handeln könnte. 2021 bekam ich dann die endgültige Diagnose Amyotrophe Lateralsklerose, kurzALS.
        
       
  2. War Ihnen die Erkrankung ALS vorab ein Begriff?
    Ich habe überhaupt nicht gewusst, was das ist. Ich wusste, dass Stephen Hawking diese Erkrankung hatte, aber seine Welt ist ja ganz anders als meine. „Um Gottes Willen“ habe ich gedacht, „ich werde das ja wohl nicht haben!“
         
       
  3. Was hat es mit ALS auf sich und wie äußert sich die Krankheit?
    Die amyotrophe Lateralsklerose (ALS) ist eine Erkrankung der Motoneuronen. Ein Motoneuron ist wiederum eine Nervenzelle des zentralen Nervensystems, die mit ihrer Nervenfaser Kontrolle über einen Muskel ausübt. Motoneuronerkrankungen sind degenerative Systemerkrankungen des Nervengewebes, in deren Verlauf es zu einem zunehmenden, schmerzlosen Muskelschwund (Atrophie) und Funktionseinschränkungen der Motorik kommt. Sie müssen sich vorstellen, meine Beine sind wie bei der Augsburger Puppenkiste und schlackern unkontrolliert hin und her. Ich kann die selbst nicht ansteuern und nicht mehr bewegen. Meine Beine sind ohne Kraft. Was aber nicht heißt, dass ich kein Gefühl mehr in meinen Beinen habe. Ich spüre jedes Steinchen unter der Fußsohle – die Reizleitung geht vom Fuß ins Hirn, aber der Weg zurück funktioniert nicht mehr. In meinem Fall ist das 2. Motoneuron von der ALS betroffen.
         
       
  4. Wie wirkt sich die Erkrankung auf Ihren Alltag, auf Ihre Lebensqualität aus?
    Das hat sehr große negative Auswirkungen, da ich so abhängig von anderen bin. Wenn ich z.B. etwas aus dem oberen Schrankfach haben will, geht es nicht. Ich komme einfach nicht hoch und sitze immer in dem Rollstuhl. Beim Duschen brauche ich Hilfe – insbesondere bei nassen Fliesen ist Vorsicht geboten. Kochen geht auch nicht mehr so gut. Stellen Sie sich mal vor, Sie fahren schräg zum Herd und fangen an zu brutzeln – es ist sehr beschwerlich. Einkaufen gehe ich nicht mehr. Dafür habe ich hier im Ort ein tolles Ehepaar, das mir ganz lieb hilft. Darüber freue ich mich sehr.
       
       
  5. Wie sind Sie auf das trivida-Rad aufmerksam geworden?
    Ich lag während eines Reha-Aufenthaltes im Oktober wach im Bett und habe mit meinem Handy gegoogelt, welche Hilfsmittel es für Menschen gibt, die sich mit dem Transfer aus dem Rolli und wieder zurück schwertun. Da habe ich die trivida-Räder entdeckt und war ganz überrascht, dass es tatsächlich Rollstuhlräder gibt, die teilbar sind und somit den Transfer barrierefrei machen und erleichtern. Bei trivida wird das jeweils obenstehende Raddrittel gelöst, entfernt und nach dem rüberrutschen aufs z.B. Sofa wieder eingesetzt. Genau das, was ich gesucht habe! Ich habe dann am nächsten Tag direkt angerufen und meine Probleme geschildert, mich über die Rollstuhlräder zu heben. Seitdem bin ich großer trivida-Fan.
        
        
  6. Für welchen Lebensbereich, in welchen Situationen nutzen Sie die trivida-Räder?
    Für alles, was möglich ist! Heute bin ich das erste Mal nach meiner Corona-Erkrankung wieder alleine auf mein Sofa gerutscht. Ich mache das obere Raddrittel ab, das geht auch für mich ganz easy. Dann lege ich ein Rutschbrett an. So habe ich es nach 14-tägiger Bettlägerigkeit geschafft, wieder allein auf mein Sofa zu rutschen. Ich kann zudem mit Hilfe der trivida-Räder allein ins Bett. Das funktioniert für mich wirklich nur mit dem „abgeklappten Rad“, also dem Entfernen des oberen Raddrittels bei den trivida-Rädern, denn um mich über das Rad zu stemmen, fehlt mir die Kraft in den Armen. Auch für meinen Sohn ist der gemeinsame Transfer mit mir in sein Auto so viel einfacher geworden und er kann seine alte Mutter doch relativ einfach auf den Beifahrersitz setzen – ohne, dass ich über das Rad gehoben werden muss.
        
       
  7. Wem würden Sie das trivida-Rad empfehlen?
    Allen MS-Patienten, die Probleme mit der Armkraft haben! Egal, ob das ein junger Mann war, der sich mit mir lange über die trivida-Räder unterhalten hat oder ältere Herrschaften im Rolli – alle waren begeistert. In den Reha-Einrichtungen in denen ich damals war, wussten viele gar nicht, dass es trivida-Räder gibt und ich habe immer bereitwillig jedem erklärt, wie das Rad funktioniert und bestimmt 20-mal am Tag das Raddrittel an und ab gemacht.
        
       
  8. Wie fühlen Sie sich von dem trivida-Team betreut?
    Super! Der Herr Eich kam sogar nach dem ersten Telefonat zu mir in die Reha-Klinik und hat innerhalb von Minuten die Reifen an meinem Rolli gewechselt – das war überhaupt kein Thema. Auch später noch standen wir immer in Kontakt und ich fühle mich so gut betreut – auch in Bezug auf die nervenaufreibenden Kostenübernahmeanträge und Widersprüche. Das Team von trivida steht mir sicher zur Seite und das lässt mich stark bleiben.
        
       
  9. Nervenaufreibende Anträge? Was ist denn da passiert? Welche Erfahrungen haben Sie mit den Krankenkassen gemacht?
    Leider kann ich nicht viel Positives berichten. Obwohl trivida mit einer eigenen Hilfsmittelnummer im GKV-Katalog eingetragen ist, die Krankenkassen die Kosten also eigentlich übernehmen müssen, hat meine Krankenkasse sich geweigert, die Kosten zu übernehmen.

    Es wurde auch kein Gutachten vom Medizinischen Dienst der Krankenkassen erstellt, sondern direkt der Antrag abgelehnt. Mit der Begründung, dass es ja möglich wäre, einen Lifter zu benutzen. Ich wohne in einem Altbau, in einem alten Siedlungshaus – ich habe gar keinen Platz für einen Lifter. Abgesehen davon könnte ich einen Lifter auch gar nicht selbstständig bedienen, ich könnte damit nicht selbstständig auf die Toilette gehen oder mich aufs Sofa setzen – es ginge sehr viel weniger allein. Mit dem trivida-Rad kann ich das alles eigenständig machen. Aber das will meine Krankenkasse nicht einsehen. Ich stehe weiter in engem Kontakt mit dem trivida-Team und sie unterstützen mich wirklich sehr dabei, dass die Krankenkasse den Kostenübernahmeantrag bewilligt.
         
       
  10. Wie könnte die Hilfsmittelversorgung in Deutschland besser laufen?
    Dass den Leuten, die ein Leben lang in die Kasse eingezahlt haben und für sich Hilfsmittel gefunden haben, die wirklich Erleichterung verschaffen können, dass denen nicht so viele Steine in den Weg gelegt werden. Es ist kein Luxus, den ich haben will, es ist etwas ganz Einfaches. Ein Spruch meiner Krankenkasse ist mir sehr im Gedächtnis geblieben: „Wir wissen ja noch gar nicht, ob Ihre Oberkörperstabilität nächstes Jahr noch vorhanden ist und ob sie nächstes Jahr noch die Reifen nutzen können.“

    Mir ist das nächste Jahr vollkommen egal, ich lebe im Hier und Jetzt und nicht mit Gedanken daran, was irgendwann kommt. Wie meine Krankheit ausgeht, das weiß ich … Ich will jetzt noch Lebensqualität haben und ich will jetzt noch am Leben teilhaben! Für mich zählt nur das Heute, Hier und Jetzt. 
        
       
  11. Was machen Sie heute – nach der Diagnose – anders in Ihrem Leben? Worauf legen Sie mehr Wert?
    Bewusstes Leben fällt mir sofort dazu ein. Ich lebe wirklich alles sehr bewusst. In der Zeit, in der ich meinen Sohn allein großgezogen habe, ist das Leben wie ein ICE an mir vorbeigerauscht. Was ich heute mache, mache ich achtsam und überlege mir auch, was mir heute guttut oder ob ich zu etwas gar keine Lust habe – naja, dann mache ich es auch nicht. Meine jungen Leute holen hin und wieder eine frische Pizza und kommen damit zu mir, wir essen dann gemeinsam. Diese kleinen Momente sind so schön – das erlebe ich heute in aller Ruhe. 
       
       
  12. Gibt es noch etwas, das Sie uns und anderen gerne mit auf den Weg geben möchten?
    Bitte, bitte niemals aufgeben! Auch wenn das Loch am Anfang riesengroß und tief erscheint, bitte nicht aufgeben. Es lohnt sich, es lohnt sich wirklich. Insbesondere den Menschen mit schweren Erkrankungen möchte ich sagen, guckt euch um, hört euch um. Es gibt Ärzte, die ihre Patienten als Ganzes sehen und nicht als eine Nummer, die schnell verarbeitet wird. Außerdem möchte ich gerne die Beratungsstelle EUTB empfehlen, die in allen Fragen rund um Rehabilitations- und Teilhabeleistungen unterstützen. 

    

Vielen Dank für das Gespräch